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April 13th, 2020

13/4/2020

 

Klagen neu entdecken

Wir wollen immer eine schnelle Lösung für alles. Ich glaube, deshalb tun wir uns schwer damit, die Kreuzigung und Auferstehung Jesu als wirkliche Lösung für das Problem des Bösen in dieser Welt (d.h. Gottes Schöpfung) zu sehen. Für viele wird diese Lösung erst ausserhalb dieser Welt real, im Jenseits, im Himmel. Auf der Erde passiert ja immer noch sehr viel Böses. Aber die Bibel besteht darauf, dass die Lösung durchs Kreuz für diese Welt ist (und kein Notausgang aus dieser Welt). Aber was ist denn das für eine Lösung, wenn sich äusserlich 'offensichtlich' nichts geändert hat? Es ist ja kein Weltfriede angebrochen. Menschen handeln immer noch habgierig und rücksichtslos. Die ‘Götter’ Macht, Sex und Geld sind immer noch sehr mächtig. Ist diese göttliche Lösung vom Kreuz nicht einfach 'innerlich', für das Herz? Ja, es stimmt: Gottes Lösung fängt im Herzen des Einzelnen an. Und ja, es stimmt: Das Kreuz hat nicht einfach alles Böse der Welt magisch ausgelöscht. Aber das ist der Punkt: Die Lösung Gottes für diese Welt ist nicht schnell und nicht einfach, aber es ist die Lösung. Und, wie das Kreuz zeigt, beinhaltet diese Lösung Schmerz und Leid, um uns davon zu erlösen.
Die Juden haben seit dem traumatischen Exil von Babylon im 6.Jh. v.Chr. gewusst, dass sie erst nach einer Zeit des Leids von Gott erlöst werden. Ja, vielleicht kommt Gottes Erlösung nicht nur einfach nach diesem Leid, sondern gerade durch dieses Leid – so wie es im grossen Gedicht von Jesaja 40-55 prophezeit wird. Jesus war überzeugt, dass sein Leiden repräsentativ die Er-Lösung für Israel und die Welt bringt. Und so ist es auch. Aber weder das Kreuz noch die Auferstehung brachten eine schnelle und einfache Lösung. 
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Seither ist Gottes heilbringendes Königreich auf Erden aufgerichtet worden, wie ein Same, der klein aufsprosst, aber schliesslich viel Frucht bringt (vgl. Mk 4; Mt 13). In dieser Spannung zwischen Heil und Leid müssen wir – gerade angesichts des Leids, das uns durch die gegenwärtige Krise stärker bewusst gemacht wird – etwas neu entdecken: Biblisch Klagen. Klagen klingt hoffnungslos und anklagend. Biblisch Klagen ist aber eben nicht so. Die Klage ist eine kraftvolle Tradition, die wir besonders in den Psalmen sehen. Klagepsalmen haben nichts mit Anklagen zu tun. Die Israeliten in der Wüste haben sich bei Gott beklagt, weil sie zu wenig Wasser, Brot und Fleisch hatten (2 Mose 16-17). Sie klagten Gott an, als ob er sie in der Wüste töten wolle. Aber in den Psalmen sind Klagen eine Form von Gebet. Die eigene Not wird vor Gott ausgeschüttet, weil man auf Gottes Güte und Liebe vertraut – aber trotzdem keine rational befriedigende Antwort auf das Leid erhält. Gott ist ein Gott des Rechts und der Gerechtigkeit und war in der Vergangenheit treu zu seinen Zusagen. Sich beklagen bedeutet Gott anzuklagen, als ob er es schlecht mit uns meint. Klagen bedeutet Gott anzurufen (an ihn zu appellieren) – in Schmerz, in Not, in Verständnislosigkeit –, weil man auf seinen guten Charakter hofft. Biblisch Klagen ist eine Gebetsform für jetzt, in dieser Spannung, in dieser Zwischenzeit. Einmal wird Klage verstummen, weil Gott alle Tränen abwischen wird (Off 21,4).
Im grossartigen Kapitel von Römer 8 wird uns diese Spannung eindrücklich vor Augen geführt: Im Messias Jesus sind wir aus dem Griff der Sünde erlöst worden (8,1-11; wie Israel aus Ägypten). Die Sünde wurde in Jesus am Kreuz verurteilt (8,3). Uns wurde als Kinder Gottes der Heilige Geist geschenkt, der uns führt (8,14-16; wie Gottes Gegenwart für Israel in der Wüste). Wir erwarten in Zeiten der Prüfungen und des Leids unser volles Erbe: die Erlösung unseres Körpers in der Auferstehung – weil Jesus auferstand (8,17-23; wie Israel auf dem Weg ins verheissene Land). An dieser Stelle sagt Paulus etwas, das mich kürzlich überraschte: Die ganze Schöpfung seufzt und stöhnt, man könnte sagen: klagt (8,22), weil sie sich nach der vollständigen Erlösung sehnt. Aus den Psalmen kennen wir das Bild, dass die Schöpfung Gott preist. Hier bei Paulus lernen wir noch ein anderes Bild kennen: Die Schöpfung klagt mit unter dem Leid, das in ihr geschieht. Wörtlich heisst es, dass sie ‘in Geburtswehen liegt’. Klagen heisst hier seufzend nach Gottes Heil auszurufen, Gott aufzufordern, sein heilsames Gericht zu bringen, um alles zurechtzurücken. Paulus denkt hier wohl zuerst an das Leid, das Christen in Verfolgung erfahren. Aber als Kinder Gottes und Erben dieser neuen Schöpfung stehen wir keineswegs über dem Leid, unter dem die Welt insgesamt leidet. Auch wir, sagt Paulus, seufzen und erwarten sehnlichst die volle Erlösung. ‘Erbarme dich, rette uns!’ Das tun wir, obwohl oder gerade weil wir schon Gottes Geist als Garantie dafür bekommen haben (8,23). Wir klagen nicht hoffnungslos, aber auch nicht unberührt. Ja, es ist sogar der Heilige Geist in uns, der uns dazu inspiriert klagend zu beten, wenn wir nicht mehr wissen, wie – «mit unaussprechlichen Seufzern» (8,26). 
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Aber zeigt das Klagen denn nicht, dass Gott noch keine Lösung gebracht hat? Gottes Lösung wird auch im Klagen sichtbar, weil Jesus das Leid nicht einfach magisch ausgelöscht hat, sondern am Kreuz in unser Leid eingetreten ist. Wenn wir klagen, nehmen wir Anteil an der Lösung des Kreuzes, indem Gott selbst in uns durch seinen Geist für das Leid um uns betet – und uns dadurch umgestaltet und anspornt, das Leid konkret zu lindern. Der Geist in uns, der uns durch die Auferstehung Jesu (8,11) unsere ultimative Erlösung garantiert (8,28), befähigt uns, bereits jetzt ein konkretes Zeichen dieser Erlösung zu sein. Ja, die Schöpfung «sehnt sich nach der Offenbarung (wohl Auferstehung) der Kinder Gottes» (8,19; vgl. Kol 3,4; Phil 3,21). Warum wohl? Ich vermute, weil das erlöste Volk Gottes im Erbe (Auferstehung!) zur Erlösung der Erde (Gottes Schöpfung) beiträgt. Das war für den Menschen allgemein vorgesehen (Gen 1-2; Ps 8) und so war das auch für Israel im Land gedacht. Und diese Erlösung wird jetzt – so wie das Kreuz – auch im klagenden Gebet sichtbar.
Jesus betet am Kreuz einen Klagepsalm (Ps 22). Mit Recht weisen wir darauf, dass dieser Psalm am Ende in Sieg über das Böse und Jubel über die Gottesherrschaft umschlägt. Doch Jesus wird nur zitiert, wie er den ersten verzweifelten Satz betet: «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?» Vergessen wir nicht: Es ist biblische Klage, keine Anklage. Ohne in eine dogmatische Diskussion zu verfallen, kann man festhalten, dass Jesus sich dadurch mit dem Leid der Welt und ihrer Gottverlassenheit repräsentativ identifiziert. Er erleidet das Leid der gottverlassenen Welt. Dabei nimmt er dieses Leid gerade nicht stoisch-gelassen wie ein Sokrates auf sich, sondern klagt. So sehr bestätigt er, dass das Leid real ist und dass es böse ist. Er bietet keinen dualistischen Ausweg daraus (Seele erlöst im Himmel vs. Körper verwest im Grab), sondern bekräftigt durch sein Klagen die Hoffnung auf die vollkommene Erlösung der Schöpfung (Himmel und Erde). Und dann kam die Auferstehung.
 
Ich brauche keine vorläufige Antworten auf das Leid der Welt, weil ich die ultimative Antwort darauf anerkenne (Jesu Kreuz und Auferstehung). Das macht mich aber nicht kalt und unberührt, wenn ich Leid sehe, sondern schafft mir Raum zum Klagen. Biblisch Klagen hilft mir, ohne verkürzte Antworten, die Spannung nicht aufzulösen, sondern in der Kraft des Geistes auszuhalten. 

April 03rd, 2020

3/4/2020

 

Was suchen Seuchen im ‘Plan’ Gottes?! 

Deuten in einer Zeit von Corona

Uns wird deutlich vor Augen gestellt, wie in einer Katastrophe zu handeln ist – sowohl aus der Bibel als auch aus der im Internet zurecht gefeierten Solidarität. Doch die Frage wird weiter hartnäckig gestellt: Wie deuten wir die Coronavirus-Krise? Mein muslimisch geprägter Freund ordnet die Pandemie als Strafe Gottes ein. Ein christlicher Theologe beharrt darauf, dass dies hier keine Strafe, sondern ein «aufrüttelndes Reden Gottes» ist, das den Menschen die Chance gibt, aufzuwachen und sich neu Gott zuzuwenden. Grundsätzlich lässt sich aus der Weltgeschichte erkennen, dass sich ausbreitende Krankheiten zur Welt, so wie sie ist, gehören, wie auch Krieg und Hunger – auch wenn das offensichtlich nicht gut ist. Natürlich konnte sich eine Pandemie wie diese v.a. durch den Flugverkehr so rasch global ausbreiten im Vergleich zu früher, als Menschen dazu neigten zu bleiben, wo sie wohnten. Strafe, Aufrütteln oder gelegentlich normal? Und was hat es auf sich, dass die Bibel Kriege, Hunger und Seuchen – also gerade die Katastrophen, die irgendwie zu dieser gebrochenen Welt gehören – in gewissen Zusammenhängen als Gerichte Gottes bezeichnet? Denken wir an die grossen Gerichtsprophetien gegen Israel (Juda) im 6.Jh., die im babylonischen Exil realisiert wurden. Jesus hat diese Gerichtssprache in seiner Warnung an seine Generation verwendet, die um 70 n.Chr. katastrophal unter den Römern gelitten hat (man lese nur einmal Josephus’ Jüdischer Krieg). Diese biblischen Zusammenhänge kann man zwar nur schlecht auf heute beziehen. Doch was machen wir mit dem Buch der Offenbarung, in dem diese Sprache wieder auftaucht und für die Zukunft in Aussicht gestellt wird? Ich denke da u.a. an 6,7-8, wo ziemlich sicher eine Seuche gemeint ist (wörtlich «Tod»), mit den typischen Begleitgerichten hebräischer Prophetie von Krieg («Schwert») und Hunger. Nehmen wir an, es handelt sich nicht nur um das 1.Jh. mit Jerusalems Zerstörung als Höhepunkt (6-11), sondern als Bild für die Zeit bis Jesus kommt. Es ist definitiv biblische Gerichtssprache – an alttestamentlichen Vorbildern wie Sacharja 6 oder die 10 Exodus-Plagen orientiert (insbesondere Off 8-9 und 16). Was ist mit diesem Gericht gemeint? Es geht dabei gerade nicht darum, dass Gott mit der Faust auf den Tisch schlägt oder uns zur Strafe den Hintern versohlt, sondern darum, dass ‘unser Weg auf unseren Kopf kommt’, wie es die alten Propheten ausdrücken würden (Hes 9,10; 11,21; 22,31) – in Bezug auf Seuchen formuliert dies ein Medizinhistoriker aufgrund historischer Beobachtungen hier überraschend ähnlich. Jesus hat es so formuliert: «Wer das Schwert ergreift, wird durch das Schwert umkommen.» (Mt 26,52) Das ist natürlich keine individualistische Gerichtsauffassung, aber eine biblische – wenn auch nicht die einzige und endgültige. Durch die Sünde zerstören wir Gottes gute Schöpfung und erben für uns selbst deren Zerstörung. Biblische Gerichtsprophetien verwenden dafür drastische Bilder für eine ‘Ent-schaffung’ (vs. Erschaffung; vgl. Jer 4) der Schöpfungsordnung wie Verdunkelung der Gestirne, Erbeben der Berge, Wüten von bedrohlichen Wassermassen, Verschwinden des Lebens, Chaos und Verwüstung. Das Böse, das Gott als Konsequenz von Sünde gewähren lässt, ist sozusagen ein Gericht. 
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Kann man die Corona-Krise denn tatsächlich so deuten? Als ‘Gericht’? Und was für eine Rolle spielt dabei die Erlösung Gottes durch das Kreuz Jesu? Das Kreuz steht nicht losgelöst zum Problem des Bösen in der Welt, sondern trifft seinen Nerv. Gott kommt in Person in diese Welt, nimmt Anteil am Leid, nimmt das Böse in Jesus am Kreuz konzentriert auf sich und überwindet es im Kern. Und doch wütet das Böse noch sicht- und spürbar. Das gehört zum Geheimnis, dass Gottes Königreich, wie im Himmel so auf Erden, bereits angebrochen ist und noch eine ausstehende Vollendung erwartet. Trotz dieser auf den ersten Blick enttäuschenden und relativierenden Aussage ist das Böse wirklich überwunden. Der Sieg darüber manifestiert sich laut dem Buch der Offenbarung als Paradox in der Leidensbereitschaft und praktisch ausgelebten Liebe der Nachfolger Jesu (und aller, die Jesus nachahmen). Die Christianisierung Europas hat historisch auch damit zu tun, dass Christen in ähnlichen Krisensituationen wie jetzt ihr eigenes Wohl für andere aufs Spiel setzten. Ein Erbe, dem die postmoderne Welt mit der Bezeichnung ‘Solidarität’ applaudiert und auf das sie noch stolz ist. Zur Ermutigung dieser leidensbereiten Treue und Liebe zu Jesus und seiner Sache wurde die Offenbarung überhaupt geschrieben. «Und sie haben ihn (den Bösen) überwunden wegen des Blutes des Lammes und wegen des Wortes ihres Zeugnisses, und sie haben ihr Leben nicht geliebt bis zum Tod», heisst es von den christlichen Märtyrern (Off 12,11). Das vorläufige Vorhandensein des Bösen ist keine Bedrohung mehr für uns, da durch die Auferstehung Jesu Gott dem Tod ein Ablaufdatum verpasst hat (1 Kor 15,25-26). Ja, das Böse wird sogar zum Erweis seiner eigenen Niederlage benutzt, wenn Menschen in der Treue zu Jesus und zugunsten anderer bereitwillig leiden. Auch wenn wir äusserlich aufgerieben werden, wird in dieser Spannung unser innerer Mensch täglich durch den Heiligen Geist erneuert (2 Kor 4,16).
Und doch: Für sich gesehen bleibt das Böse böse, das Leiden schrecklich und der Tod grausam. Es stimmt: ‘Jeder Aspekt des Todes verspottet Gott und seine Schöpfung.’ Wir erwarten deshalb sehnsüchtig das ultimative Gerichtsurteil Gottes gegen das Böse, dem Jesus bereits den ersten Todesstoss versetzte. In dieser spannungsgeladenen Zwischenzeit sind wir berufen, nicht die Welt zu verlassen, sondern auf dem Weg des subversiven Königreichs Gottes dem Bösen zu trotzen: weder menschlich dagegen aufzubegehren noch der Verlockung weltlichen Profits nachzugeben und unser Herz daran zu hängen. Es ist der Weg des Kreuzes, der Selbsthingabe. Es ist der Ruf Babylon zu verlassen, aus dem ‘Exil’ zurückzukehren, nicht mehr an den bösen Systemen der Welt und ihrem Gericht anteilzuhaben (Off 18,4). (Das meint wohl Jesus, nebst der konkreten Flucht, mit der Anweisung an seine Jünger Jerusalem zu verlassen.) Nur, eigentlich ist dies für uns nicht ganz möglich, weil wir irgendwie in diesen babylonischen Systemen der Ungerechtigkeiten verstrickt sind. Sei es nur, dass wir im Westen mit unserem Lebensstandard auf Kosten anderer leben, die dafür ausgebeutet werden. Deshalb sollte die Kirche die kritisch-prophetische Stimme sein – klarer und besser als die Medien – und Systeme à la Königreich Gottes reformieren und aufbauen. Babylon, das prophetische Bild einer Welt in Rebellion gegen Gott, wie das Ägypten zurzeit Moses oder das Rom zurzeit der Offenbarung, ist für uns zutiefst zwiespältig. Ich meine, ‘Babylon verlassen’ bedeutet eben nicht gegenüber dem Leiden der Welt passiv zu sein und nur den Zeigefinger zu heben – das war trotz dieser prophetischen Deutung von ‘Gericht’ nie die Reaktion der Kirche. Im Gegenteil: Das Kreuz bietet das praktische Handlungsmuster. So wie Jesus das Böse als ‘Gericht’ auf sich nahm und uns aufforderte ihm darin nachzufolgen, sind auch wir berufen an dieser Last mitzutragen. Nicht nur dort, wo sie uns – im babylonischen System einer Welt, die aus den Fugen geraten ist – latent sowieso trifft, sondern auch dort, wo wir dadurch das Heil des Kreuzes zu anderen bringen.
 
Zu hilfreichen theologischen Deutungen und Reaktionen in der Coronazeit (nicht hoffnungslosen, wie wohl zu Unrecht N.T. Wright angelastet wird) und zu einer Frage, die viele beschäftigt, warum Gott dieses Leid zulässt – und warum wir überhaupt diese Frage stellen –, sei dieser Podcast empfohlen. ​

March 28th, 2020

28/3/2020

 

Hoffnungsvoll leben in einer Zeit von Corona

Wie kann ich hoffnungsvoll leben in einer Zeit des Umbruchs? Der Prophet Jeremia blickte seinerzeit mit der drohenden Zerstörung Jerusalems und der Gefangennahme grosser Bevölkerungsteile einer radikalen Gesellschaftsumwälzung entgegen. Obwohl ich die Corona-Krise zwar nicht gerade so bezeichnen kann, inspirieren mich zwei Ereignisse aus Jeremias Leben für ein hoffnungsvolles Leben in einer Zeit, wo wir eine abrupte Veränderung des gesellschaftlichen Lebens wahrnehmen.
Jeremia sitzt im Gefängnis, da er den drohenden Untergang Jerusalems als Gericht Gottes verkündete – Verrat am eigenen Land die Anklage. Da kommt ein Verwandter zu ihm und bietet Jeremia ein Landstück zu verkauf an. Der Haken ist: Das Land ist im Krieg mit Babylon bereits an den Feind gegangen. Man kann darauf weder säen noch ernten ohne schmerzliche Abgaben, wenn überhaupt. Jeremia geht auf den Deal ein. Er kauft das Land als ein prophetisches Zeichen, dass trotz des Untergangs durch die Babylonier «in diesem Land wieder Häuser, Felder und Weinberge gekauft werden.» (Jer 32,15) Obwohl Jeremia selbst nicht von diesem Kauf profitieren kann – er sitzt im Gefängnis und geht in Kürze ins Exil –, macht er ihn als hoffnungsvoll-prophetisches Zeichen: Das Gericht durch Babylon ist nicht endgültig. Es ist nicht das Ende. Gott wird wiederherstellen. Ein Zeichen der Hoffnung im Angesicht der Verzweiflung.
Was ist mit denen, die bereits von diesem Babylon-Gericht heimgesucht wurden und im Exil entwurzelt sind? Jeremia schreibt einen Brief an sie. «Baut Häuser und wohnt darin! Pflanzt Gärten und eßt ihre Früchte! Nehmt Frauen und zeugt Söhne und Töchter! Und nehmt Frauen für eure Söhne, und eure Töchter gebt Männern, damit sie Söhne und Töchter gebären, damit ihr euch dort vermehrt und nicht vermindert! Und sucht den Frieden der Stadt, in die ich euch gefangen weggeführt habe, und betet für sie zum HERRN! Denn in ihrem Frieden werdet ihr Frieden haben.» (Jer 29,5-7 ELB) In anderen Worten: Schafft Heimat in einer Kultur der Heimatlosigkeit! Pflanzt Gärten in einem verpesteten und umkämpften Land! Heiratet in einer Kultur des sexuellen Konsumismus! Seid verbindlich in einer Zeit, in der Menschen sich alle Optionen offen lassen wollen! Produziert und vermehrt in einer Welt von Schulden! Habt Kinder ‘am Ende der Weltgeschichte’! Sucht Schalom, das Wohlergehen anderer in einer gewalterfüllten Welt voller politischer Konflikte und von wirtschaftlichem Ungleichgewicht. (Wir können aktuell hinzufügen: in einer Zeit von Corona voller medialer Hiobsbotschaften.) Das ist Jeremias Wort an die Leute im Exil und seine subversive Botschaft an uns. In diesem Zusammenhang steht das beliebte das Wort, dass Gott ‘gute Gedanken für eine Zukunft voller Hoffnung’ für uns bereithält (29,11). (nach Walsh, Subversive Christianity, 2014) 
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Was bedeutet es für uns in dieser Zeit von Corona, im Rahmen der Möglichkeiten, einen Jeremia-Gegentrend zu setzen? Wo können wir der Angst trotzen und den von Jesus am Kreuz errungenen Sieg in die Praxis umsetzen? Allerdings glauben und handeln wir nicht triumphalistisch à la «Wir schaffen das!», sondern mit dem vertrauensvollen Blick auf den Gekreuzigten, der uns motiviert, die Last anderer freudig mitzutragen. Der Sieg über diese Krise zeigt sich meiner Meinung nach nicht nur in der erfolgreichen Bekämpfung des Virus, sondern in der Bereitschaft am Kreuzesleiden Jesu Anteil zu haben, indem wir uns nicht zu schade sind den Schalom anderer suchen, auch wenn es unseren vorübergehenden Schalom beeinträchtigt. Nicht nur im erfolgreichen Besorgen von Hilfe für den Nächsten, sondern auch im bereitwilligen Aufgerieben werden durch die Last anderer (ohne erreichten, absehbaren oder einkalkulierten Erfolg) liegt die Gemeinschaft des Kreuzes Jesu, im Verlust unserer Zeit, unserer Energie, unseres Besitzes zugunsten anderer. Der Sieg besteht darin, dass wir uns von der Krise nicht entmenschlichen lassen und mit Hamsterkäufen oder auch nur schon einem inneren Überlebens-Modus (‘fight or flight’) zum Tier degradiert werden. Nein, sondern dass wir unsere Liebe zu Gott und zum Menschen als Bild Gottes in seiner Schöpfung praktisch ausleben – motiviert und befähigt durch das Kreuz und den Geist Gottes – und so die neue Schöpfung inmitten chaotischer Kräfte ‘in Tat und Wahrheit’ vorwegnehmen. «Deshalb» heisst es – weil Jesus sich erniedrigt hat – «hat Gott ihn hoch erhoben.» (Phil 2,9) Deshalb – aufgrund der Auferstehung und Erhöhung Jesu – sind auch unsere Mühen im Herrn nicht vergeblich, sondern ein Ausdruck des Sieges über das Böse (1 Kor 15,58; Phil 1,28-29).
Wir sind also berufen, der gegenwärtigen Situation weder mit Panik, noch mit Leichtsinn oder einem menschlichen Optimismus oder Aktivismus zu begegnen, sondern – gerade in der Passionszeit – uns durch das Kreuz Jesu neu motivieren zu lassen, an der Last anderer mitzutragen, hoffnungsvoll mitzuleiden. 

Ein Gemälde von Rembrandt, das die prophetische Trauer des Jeremia betont, lädt zum Nachdenken über Jeremia und seine Botschaft auch für uns heute ein.
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March 22nd, 2020

22/3/2020

 

Handeln in einer Zeit von Corona

Zum Buch der Offenbarung später einmal mehr. Zunächst zur Frage, ob die Bibel Pandemien wie Corona voraussagt. Uns muss zuerst das Offensichtliche klar werden, dass es schon vor dieser Aussage von Jesus (Lk 21,11) Seuchen gab und sie gerade in Kriegszeiten eine häufige Erscheinung waren (z.B. in Athen um 430 v.Chr. Thukydides 2,47-54; im assyrischen Heerlager in Judäa um 701 v.Chr. 1 Könige 18-19; Herodot 2,141). Seuchen allgemein vorauszusagen ist prophetisch so sicher wie den nächsten Sonnenaufgang vorauszusagen. So sensationalistische Behauptungen, dass Corona oder irgendeine andere spezifische Katastrophe in der Bibel für heute vorausgesagt worden sei, lassen meiner Meinung eine völlig verdrehte Sicht auf das erkennen, was uns biblische Prophetie eigentlich vermitteln will.
«Aber es kommt ein grosses Übel und sie werden der Pest nicht entfliehen.» (Sibyllinische Orakel 3,266)
Ich lese gerade eine jüdisch-christliche Orakelsammlung aus der Zeit vor und nach Jesus. Diese Sammlung ahmt Orakelsprüche aus der heidnischen Welt nach, wie das berühmte Orakel von Delphi, und tut so als hätte Gott die ganze Weltgeschichte schon längt vorausgesagt. Doch genauso ist biblische Prophetie eben nicht. Zugegeben, da gibt es tatsächlich Voraussagen. Aber diese Voraussagen sind kein Selbstzweck wie in einer Orakelsammlung, die sich der prophetischen Schau rühmt, sondern motivieren in erster Linie zum Handeln. Auch die prophetische Ankündigung von Jesus an seine Jünger in Mt 24, Mk 13 und Lk 21 hatte zum Hauptzweck, dass die Jünger in der kommenden Krisenzeit richtig handeln: sich nicht verführen lassen, Jesus trotz Verfolgung treu bleiben, vertrauensvoll die vollständige Erlösung erwarten. Obwohl wir nicht mehr die unmittelbaren Adressaten dieser Rede von Jesus sind, können wir trotzdem die Hauptabsicht darin erkennen und dementsprechend in unseren eigenen Krisensituationen reagieren: uns nicht verführen lassen (zu ‘apokalyptischer’ Panik oder Leichtsinn), Jesus und seinem Weg trotz schwieriger Umstände treu bleiben und vertrauensvoll Gottes Erlösung erwarten.
Mir gefällt da besonders die Handlungsbereitschaft der Heilsarmee (und natürlich auch vieler anderer Kirchen), die nicht primär nach Erklärungen für Ereignisse sucht, sondern der akuten Not praktisch begegnet. Die Heilsarmee handelt aber nicht mit einem kopflosen Pragmatismus, sondern mit einem biblischen Erklärungsmodell im Hintergrund – nämlich, dass Gott in Jesus zur Rettung der Welt den Tod am Kreuz ertrug, um das Böse dadurch zu überwinden, und dass wir in den Fussspuren Jesu genau diesen Weg des Kreuzes, der Hingabe, des Dienstes gehen, damit wir in der Linie von Jesus zum Heil der Welt beitragen, das Gott schliesslich vervollständigen wird.
Und ich bin der Meinung, dass die Heilsarmee damit näher bei der Bibel liegt als viele moderne geschichtsignorante und sensationsgeile Erklärungsmodelle. 
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Katastrophen-Prophetien und katastrophale Prophetien 

Es spielt eigentlich keine entscheidende Rolle, ob diese Krise vorausgesagt wurde oder nicht. Obwohl sie in der Bibel nicht prophezeit wurde, hat sie Gott nicht überrascht. Entscheidend ist die Frage: Wie können wir als Christen Gottes Willen in einer Zeit wie dieser tun? Auch wenn Gottes Wille je nach Situation für jemanden persönlich unterschiedlich sein kann, ist er allgemein kein Geheimnis und auf die persönliche Situation anwendbar (vgl. Micha 6,8; Mt 22,36-38). Gerade das Vorkommen einer Katastrophen-Prophetie im Neuen Testament gibt uns Aufschluss über das typisch christliche Handlungsmuster.
«Während dieser Zeit kamen einige Propheten aus Jerusalem nach Antiochia. Einer von ihnen – ein Mann namens Agabus – wurde vom Geist ´Gottes` dazu gedrängt, vor ´die Gemeinde` zu treten und anzukündigen, dass eine schwere Hungersnot über die ganze Welt hereinbrechen werde (was während der Regierungszeit von Kaiser Klaudius dann auch tatsächlich geschah). Da beschlossen die Jünger, den Geschwistern in Judäa ´eine Geldspende` zukommen zu lassen; jeder sollte entsprechend seinen Möglichkeiten zu ihrer Unterstützung beitragen. Das taten sie dann auch. Sie schickten ´das Geld` an die Ältesten ´der Gemeinde von Jerusalem`, und Barnabas und Saulus waren die Überbringer.» (Apg 11,27-30 NGÜ)
Die Kirche in Antiochia reagierte mit denen ihr möglichen Mitteln, um materiell schwächer gestellte Familienmitglieder in dieser Krise zu unterstützen – obwohl diese Krise auch sie selbst treffen wird! Katastrophen-Prophetien sollten uns immer zum leidenschaftlichen Handeln bewegen, sonst sind es katastrophale Prophetien, die nur noch mehr Leid schaffen. Passionierter Einsatz à la Jesus und Antiochener Kirche sollte in jeder Katastrophe unsere Antwort sein. Lähmt uns die Corona-Krise oder bietet sie uns die Chance, motiviert von der Passion Jesu, selbst leidenschaftlicher zu beten und zu handeln? Kümmert es uns, wie es dem Nachbar geht, oder haben wir nur Angst, von ihm angesteckt zu werden? Bieten wir – nach Möglichkeit – Bekannten, die gesundheitlich oder wirtschaftlich stark unter der Krise leiden, konkrete Hilfe oder schrecken wir davor zurück, da es ja auch uns treffen könnte?  Bleiben wir – gerade in der gegenwärtigen Fastenzeit – grosszügig gegenüber anderen oder hamstern wir nur alles Mögliche für uns? 
Passend dazu folgendes Bible Project Video für diejenigen, die Englisch verstehen. 

March 20th, 2020

20/3/2020

 

Glauben in einer Zeit von Corona

Ich habe mich zuerst geweigert, dem Corona-Thema grössere Beachtung zu schenken. Doch die sich überschlagenen Nachrichten und Massnahmen der Behörden haben so viele Menschen in ihren Bann gezogen, so dass ich den Drang verspürte, das Thema konstruktiv und in meinem Kompetenzbereich (nicht als Virologe, wie es plötzlich so viele gibt, sondern als Theologe) zumindest teilweise anzugehen.
Seit dem Ausbruch dieses neuartigen Virus in Asien und spätestens seit der raschen weltweiten Ausbreitung dieser Krankheit kursieren im Internet und in den Köpfen geistliche Erklärungsmodelle und Bekämpfungsstrategien.
Dagegen proklamieren und fasten oder doch als Zeichen der Zeit akzeptieren? Vorsicht walten lassen und sich isolieren – oder ist das zu viel Angst? Sich auf Gottes Schutz berufen und mutig der allgemeinen Panik trotzen – oder ist das sogar fahrlässig? Ein Freund erklärte mir vor einigen Tagen, dass Corona eine Strafe Gottes sei, weil die Menschen Gott vergessen haben. Ein Bekannter hat mir vorsichtig die Frage gestellt, wo im biblischen Buch der Offenbarung wir gerade mit der Corona-Pandemie stehen. Corona – Endzeitzeichen oder Strafe Gottes? Vielleicht sogar ein teuflischer Angriff? Die Notmassnahmen des Bundes, der Kantone und der eigenen Arbeitsstelle lassen Christen nun geistlich mehr aufhorchen. Nichts kann das besser als eine Krise, sei sie gesundheitlicher, wirtschaftlicher oder militärischer Art. Was passiert gerade?
Ist es nicht sehr bedenklich, dass wir erst in einer Notlage nach der Bedeutung der Bibel für unsere Zeit fragen? Diese Kurzschlussreaktion führt oft dazu, dass wir spektakulären, aber eigentlich unhaltbaren Erklärungen biblischer Prophetie auf den Leim gehen.
In den nächsten Episoden werde ich jeweils eine Textstelle aus der Bibel oder Themen anschauen, die man (nicht) auf den Glauben in einer Zeit von Corona anwenden sollte. 

Werden Pandemien wie Corona in der Bibel vorhergesagt?

Fangen wir mit einer Stelle an, die in Bezug auf eine Pandemie häufig herangezogen wird. «Es wird sich Nation gegen Nation erheben und Königreich gegen Königreich;  und es werden große Erdbeben sein und an verschiedenen Orten Hungersnöte und Seuchen; auch Schrecknisse und große Zeichen vom Himmel wird es geben.» (Lk 21,10-11 ELB)
‘Gut, vielleicht ist es ja nicht nur Corona, sondern allgemein Seuchen, die hier gemeint sind – es werden ja mehrere erwähnt. Kriege und Erdbeben gibt es ja nach wie vor zuhauf,’ könnte man oberflächlich meinen. Ein schlauer Versuch, diese Stelle auf jede Zeit anzuwenden und Unglücksfälle grösserer Art als Gottesgericht oder abgeschwächt als ‘notwendige Zeichen der Zeit’ zu interpretieren. Doch haben wir genau hingeschaut? Was ist der eigentliche Zusammenhang dieser Prophetie und v.a. die Art, wie prophetische Sprache funktioniert? Dieser Vers formt mit dem ganzen Kapitel eine Rede von Jesus an seine Jünger, die sich nachweislich auf die Situation der Jünger im 1.Jh. und die Katastrophe um die Zerstörung Jerusalem um 70 n.Chr. bezieht. 
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Lukas (21) formuliert im Gegensatz zu Matthäus (24) und Markus (13) die Rede für eine nicht-jüdische Hörerschaft und bietet einen Schlüssel zum Verständnis für eine – für uns! – oft prophetisch verschlüsselte Sprache. Die Rede von Aufständen, Kriegsbedrohung, Hungersnöten und daraus resultierenden Pandemien ist in der Bibel typisch für die prophetische Gerichtsandrohung an Israel, die durch Babylon im 6.Jh. v.Chr. auch realisiert wurde – siehe speziell Jeremia und Hesekiel (insbesondere die Dreiergruppe von Schwert, Hunger, Pest in Jer 27,8 oder Hes 5,12). Jesus wendet alttestamentlich-prophetische Sprachtechniken an. Er benutzt auch eine kosmische Sprache wie die Verfinsterung der Sonne und des Mondes, um den Zusammensturz der Gesellschaftsordnung anzukündigen. 
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So hat Jesaja den Untergang Babylons verkündigt (Jes 13) – und genauso verkündigt Jesus den Untergang des korrupten Systems des Jerusalem seiner Zeit. Er tut das in typisch prophetisch-apokalyptischer Manier, die man nicht einfach übersehen und völlig unhistorisch, wortwörtlich auf unsere Situation übertragen darf. Hat denn seine sogenannte ‘Endzeitrede’ keine Bedeutung mehr für heute? Doch, durchaus. Dazu hilft uns das ebenso verehrte wie gemiedene Buch der Offenbarung, das die Situation des 1.Jhs. mit dem Untergang Jerusalems in der gleichen prophetischen Sprache behandelt (Kapitel 6-11), aber darüber hinaus eine globale Perspektive und eine allgemeine Haltung zu solchen und ähnlichen Krisenzeiten bietet. Als Überblick über die Offenbarung empfehle ich die beiden Kurzvideos vom Bibel Projekt. ​​

March 18th, 2020

18/3/2020

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Schon in Gedanken infiziert?

Für alle, die sich denkerisch mit der aktuellen Corona-Herausforderung auseinandersetzen wollen. Es sei betont, dass dies keine Kritik der behördlichen Massnahmen ist, sondern ein Gedankenanstoss über den inneren Umgang damit.
C.S. Lewis schrieb um 1948 über die Angst vor einem Atomkrieg, eine akute Angst, die wir heute in Bezug auf Corona wieder erleben. Ein kleiner Ausschnitt davon habe ich relativ frei übersetzt. Er spricht über eine Realität des Lebens, die heute immer mehr verdrängt wird, weil wir immer weniger damit umgehen können.
 
«Auf eine Art denken wir zu viel über die Atombombe nach. ‘Wie sollen wir in einer Zeit der Atombombe leben?’ Ich bin versucht zu antworten: Was fragst du nur so dumm? So wie du im 16.Jh. gelebt hättest, als in London jedes Jahr die Pest wütete. Oder so wie wenn du in der Wikingerzeit gelebt hättest, als Räuber von Skandinavien jederzeit an deiner Küste stranden und dich ermorden konnten. Oder, so wie es tatsächlich ist, wie du in einer Zeit von Krebs, einer Zeit von Syphilis, in einer Zeit von Lähmung, in einer Zeit der Raubüberfälle, in einer Zeit der Verkehrsunfälle lebst.
In anderen Worten: Lasst uns nicht anfangen, die Neuheit (nicht die Ernsthaftigkeit!) unserer Situation zu überbewerten. Glaube mir, lieber Mensch, du und alle, die du liebst, wurden schon lange bevor die Atombombe erfunden wurde, zum Tod verurteilt. Und ein relativ hoher Prozentsatz von uns wird auf unangenehme Art sterben. Wir haben einen grossen Vorteil gegenüber unseren Vorfahren: Palliativmedizin. Es ist absolut lächerlich, darüber zu jammern, dass Wissenschaftler mit der Atombombe noch eine neue Möglichkeit geschaffen haben, wie wir schmerzvoll und frühzeitig sterben können, in einer Welt, die sowieso schon mit solchen Möglichkeiten überquillt und wo der Tod selbst überhaupt keine Möglichkeit, sondern eine Sicherheit ist.
Das ist der erste Punkt, den ich machen muss. Und die erste Tat, die wir angehen sollten, ist sich zusammenzureissen. Falls wir alle durch eine Atombombe zerstört werden sollten, so lasst diese Bombe, wenn sie kommt, uns finden, während wir vernünftige und menschliche Dinge tun: Beten, Arbeiten, Unterrichten, Lesen, Musik hören, unsere Kinder baden, Tennis spielen, sich mit unseren Freunden bei einem Spiel unterhalten – nicht zusammengekauert wie verängstigte Schafe und über Bomben nachdenkend. Sie mögen unsere Körper zerstören (das kann sogar ein Virus), aber sie dürfen nicht unseren Verstand beherrschen.»
Aus «Über das Leben in einer atomaren Zeit» (1948)
 
Können wir in der aktuell gebotenen Sicherheit und Rücksicht ‘vernünftige und menschliche Dinge’ tun oder sind wir auch gedanklich von diesem Virus infiziert? 
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    Autor

    Luca Agnetti

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